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Digitalisierung der Bildung oder: Die Renaissance des Behaviorismus

„Der DigitalPakt bringt die digitale Bildung in die Fläche“, so heißt es in der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 08.10.2024. Er „eröffnet […] den Weg vom ‚Lehren und Lernen mit digitalen Medien und Werkzeugen‘ hin zum Lernen und Lehren in einer sich stetig verändernden digitalen Realität“ (BMBF, 2024). 6,5 Milliarden Euro wurden von 2019 bis 2024 an die Schulen in Deutschland verteilt und, mit 10 % Eigenanteil der Länder, auf 7,2 Milliarden Euro erhöht (BMBF, 2024). Die „digitale Transformation“ (BMBF, 2024) von Schulen ist unabdingbar, um „Schülerinnen und Schüler mit allen Kompetenzen für die digitale Welt, in der wir leben, auszustatten“ (BMBF, 2024). Ähnliches kann man auf Hochschul- und auf Unternehmensseiten lesen. In Kürze: Wir leben in einer digitalen Welt und deshalb müssen Lehren, Lernen und Arbeiten angepasst – transformiert – werden. Worin die Transformation selbst besteht, wird selten beschrieben. Der Digitalisierungsgrad, wie ihn beispielsweise das baden-württembergische Kultusministerium seit 2023 für Schulen erprobt (BWMK, 2022; IBBW, 2023), ist die neue und unbestechliche Kennziffer.

„Digitalisierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem“, so ruft hingegen Engartner (2024, Cover) aus. An dieser Stelle sei ein ernüchternder Blick auf die Zahlen erlaubt: 25 % der Viertklässler erreichen derzeit nicht den internationalen Mindeststandard im Lesen (BMBF, 2023). Es zeigen sich ein um 20 % erhöhter Sonderförderungsbedarf (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, S. 9) für Schüler und eine starke Zunahme von Sprachdefiziten und Sprechstörungen (KKH-Studie, 2022). Zudem fühlen sich laut DAK-Präventionsradar 55 % der Schüler erschöpft, 37 % klagen über Schlafprobleme, 31,5 % über erhöhte bis chronische Einsamkeit, weil sie sich ausgeschlossen fühlen und zu wenige Freundschaften haben. Weiter geben 46 % der Schüler multiple Beschwerden wie Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen an (DAK-Gesundheit, 2024a).

Es lässt sich zum einen an dieser Stelle resümieren, dass Schüler physisch und psychisch immer weniger gesund sind. Ähnlich dramatische und seit Jahren steigende Zahlen legt der DAK Psychreport für Erwachsene vor (DAK-Gesundheit, 2024b). Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass Schüler immer weniger über ausreichendes Wissen verfügen. So beklagt sich beispielsweise die Hochschulrektorenkonferenz über „gravierende Mängel bei Abiturienten“ (o. A., 2019). Die Art und Weise, wie und was gelernt und gearbeitet wird, scheint folglich nicht besonders gesundheitsfördernd und bildend zu sein.

Die Verheißungen zur Digitalisierung in der Bildung lassen sich zunächst an den häufig repetierten Funktionen von digitalen Medien im Lehr- und Lernkontext betrachten. So heißt es, dass Medien 

  1. zum Lernen motivieren, 
  2. man mit ihnen präsentieren und veranschaulichen sowie
  3. die Lernenden aktivieren und Gelerntes vertiefen kann und es 
  4. sich mit ihnen differenzieren und individualisieren sowie 
  5. kommunizieren und kooperieren lässt. (Schaumburg & Prasse, 2019, S. 174 ff.) 

Diese Möglichkeiten außer Frage stellend sind die benannten Funktionen jedoch kein Alleinstellungsmerkmal von digitalen Medien. All dies kann in persönlichen Lernsettings ebenso ermöglicht und angeregt werden – durch die Lehrperson, die Vielfalt an Lernmitteln, die Lernsituation und eine gekonnte Didaktik und Methodik. Dem zuvor erwähnten Motivationseffekt digitaler Medien lässt sich der Neuigkeitseffekt entgegenhalten, das heißt, dass die zunächst natürliche menschliche Neugier auf Neues „von relativ kurzer Dauer […] [und] der Effekt im Verhältnis zu dem zu tätigenden Aufwand im Allgemeinen zu gering ist […]. Nach einer kurzen Euphorie wird den Lernenden klar, dass das Lernen mit Medien höhere Anforderungen an die Selbststeuerung stellt“ (Kerres, 2018, S. 95). Hinzu kommt, dass bei digitalen Lernangeboten die mentale Anstrengung reduziert wird, wenn eher Spaß und Unterhaltung statt Lernen im Vordergrund stehen. In der Folge sinkt die Lernleistung (Kerres, 2018, S. 95). 

Bleiben wir noch einen Moment bei der Selbststeuerung, die für das digitalisierte Lernen notwendig, ja unabdingbar ist. Auch sie ist kein alleiniges Merkmal für das Lernen mit digitalen Medien, stellt aber hohe kognitive und motivationale Anforderungen an die Lernenden: Es sind unter anderem selbst Lernziele zu setzen, die Lerndauer sowie der Lernerfolg zu prüfen (Kerres, 2018, S. 32). Dies muss jedoch bereits eingeübt worden sein, bevor das digitale Lernangebot genutzt wird. Überforderung und der Abbruch von Lernprozessen können im anderen Fall die Folge sein (Preckel & Hämmerle, 2007, S. 39 f.). 

Ein derzeit besonders stark strapazierter Begriff, wenn es um die vermeintlichen Vorteile digitalisierten Lernens geht, ist der des personalisierten Lernens. Hier werden mithilfe von Learning Analytics digitale Daten erhoben, um persönliche Lernpfade oder Learning Journeys automatisiert zu „kreieren“. Es werden unter anderem die Zugriffszeiten, Lernzeiten, Reaktionen und Fehler (mit Vorliebe mittels Multiple-Choice-Tests) gespeichert und mit systemseitigen „Vorgaben“ abgeglichen. Dies kann im Anfängermodus für Lerner möglicherweise hilfreich sein. Sobald Lerner aber an ihr Vorwissen anknüpfen und eigene Gedanken entwickeln und zu eigenen Lösungen kommen (wollen), so ist dies nur möglich, wenn dies zuvor – bei der Programmierung – vorgedacht und als Lernpfad abgespeichert worden ist. „Der Rechner und die Software geben Handlungsanweisungen, ‚Lernwege‘, vor, zwischen denen die Lernenden wählen können. Selbst die Wahl zwischen Variante A, B oder C zwingt immer noch auf vordefinierte Wege.“ (Lankau, 2022, S. 126).

Die Steigerung des personalisierten Lernens mittels Learning Analytics ist der Gedanke des Classroom-Managements. Hier werden Verhaltensdaten von Gruppen oder Klassen erhoben und mittels KI ausgewertet. Profile unter anderem zur Leistungsfähigkeit, Motivation und Konzentration, zu Ängsten und anderen Emotionen von Einzelnen und Gruppen werden erstellt (Lankau, 2022, S. 129). Dies alles mit dem vorgeblichen Ziel, Lernen erfolgreicher zu machen und ggf. die Lehrperson zu unterstützen. Jedoch: Zwangsläufig führen „[d]igitale Angebote und Verfahren […] zu einem normierten Nutzungsverhalten“ (Lankau, 2022, S. 126). Normiertes Verhalten geht mit normiertem Denken und Fühlen einher.

Der „steuerbare Mensch“ (Lankau, 2022, S. 129) – dies war die Idee des Behaviorismus. Das 1953 von Skinner entwickelte Modell des operanten Konditionierens wird seit dieser Zeit mit anhaltender Begeisterung im Lern- und Arbeitskontext eingesetzt. In Kürze: Das Verhalten eines Menschen als Reaktion auf einen (Lern-)Reiz wird mithilfe von positiver und negativer Verstärkung gesteuert (Schaumburg & Prasse, 2019, S. 154 f.). Zunächst sind systematisch aufgebaute und kurze Lernsequenzen zu bearbeiten, eine positive oder negative Rückmeldung wird gegeben und die nächste Aufgabe schließt sich an. Dies alles lässt sich sehr gut in programmierte Anweisungen umsetzen und statistisch auswerten. Im digitalisierten Lernen sind die Gedanken des Behaviorismus par excellence wiederzufinden.

Übrigens, der steuerbare Mensch lässt sich im Arbeitskontext ebenso finden wie beim Lernen. Die Steuerung erfolgt hier mittels diverser Computerprogramme, die Arbeitsaufgaben zuweisen, die dafür benötigte Zeit ermitteln, in Performance-Daten umwandeln und letztlich die für die Bearbeitung der Aufgabe notwendigen Schritte der Logik des Programms unterwerfen. 

Im behavioristischen Lernen ist kein Platz für Verstehen, ebenso wenig wie in digital gesteuerten Arbeitsprozessen Platz für eigenes Gestalten, Verstehen und Sinnhaftigkeit der Aufgabe vorgesehen ist, was bedeutend wäre, um nach Antonowsky gesund zu bleiben. Etwas zu verstehen bedeutet aus didaktischer Perspektive, etwas zu wissen, einen Sachverhalt erklären bzw. als Ergebnis entsprechend handeln zu können (Lehner, 2019, S. 140). Verstehen bedeutet auch, dass sich infolge eines aktiven Konstruktionsprozesses „das Neue stimmig in vorhandenes Wissen einfügt […][,] Verknüpfungen zwischen Bekanntem und Neuem [geschaffen] und […] damit die individuellen Deutungsmuster der betreffenden Person [erweitert werden]“(Lehner, 2019, S. 140). Der Vorgang – oder besser der Prozess –, der dies ermöglicht, wird Lernen genannt. Lernen ist damit mehr als Input – Blackbox (Lerner) – Output. Und: Der Output ist nicht steuerbar, weil Verstehen immer subjekt- und kontextabhängig (Lehner, 2019, S. 140) und damit letztlich an die Person gebunden ist. Mit Blick auf digitalisiertes Lernen lässt sich mit Kerres (2018, S. 139) festhalten, dass „[m]ediale Lernangebote […] dazu beitragen [können], Bildungsprozesse anzuregen, und zwar genau dann, wenn sie zu den situativen Bedingungen des jeweiligen Kontextes passen: Es ist damit die Situation, die den Wert des Mediums bestimmt, und nicht das Medium selbst“

Behavioristisches digitalisiertes Lernen mag für Anfänger eine Unterstützung sein. Mit Blick auf Lernen undVerstehen lässt sich festhalten, dass „[d]er Denkfehler […] im Verkürzen auf mechanistische (externe Steuerung) bzw. biologische Verhaltensmuster (Reiz-Reaktions-Schema) [liegt]. Verloren geht in solchen Modellen der Mensch als Individuum und Persönlichkeit mit (Selbst-)Bewusstsein, Sozialverhalten, eigenem Willen und reflektiertem Verstand“ (Lankau, 2022, S. 67). 

Aber wer weiß, vielleicht brauchen wir dies alles nicht mehr? Das Denken kann jetzt ja die KI übernehmen …


Anmerkung: Dieser Text ist zuerst im Magazin à propos 2024/2025, dem Jahresmagazin des Fachbereichs onlineplus der Hochschule Fresenius, erschienen und hier leicht verändert abgedruckt.


Literatur

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2022). Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld: wbv. Verfügbar unter: https:// www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf (19.11.2024).

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2023). IGLU – Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung. Verfügbar unter: https://web.archive.org/web/20240305114005/https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/bildung-im-schulalter/iglu-internationale-grundschul-lese-untersuchung/iglu-internationale-grundschul-lese-untersuchung_node.html (19.11.2024). 

BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2024). Stark-Watzinger/Streichert-Clivot: Der DigitalPakt bringt die digitale Bildung in die Fläche. Verfügbar unter: https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/pressemitteilungen/de/2024/10/170924-Digitalpakt.html (19.11.2024).

BWMK – Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2022). Digitalen Entwicklungsstand an Schulen erfassen. Verfügbar unter: https://km.baden-wuerttemberg.de/de/service/pressemitteilung/pid/digitalen-entwicklungsstand-an-schulen-erfassen-1 (19.11.2024).

DAK-Gesundheit (2024a). Präventionsradar 2024: Erschöpfung und Einsamkeit im Schulalter. Verfügbar unter: https://www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/praeventionsradar-2024_77378 (19.11.2024).

DAK-Gesundheit (2024b). DAK Psychreport 2024: Erneuter Höchststand bei psychisch bedingten Fehltagen im Job. Verfügbar unter: https://www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/psychreport-2024_57364 (19.11.2024).

Engartner, T. (2024). Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden. Neu-Isenburg: Westend.

IBBW – Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (2023). Projekt „Tool digitale Schule“. Verfügbar unter: https://ibbw-bw.de/,Lde/Startseite/Systemanalysen/Erprobungsprojekt+Tool+digitale+Schule (19.11.2024).

Kerres, M. (2018). Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung digitaler Lernangebote (5. Auflage). Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg. 

KKH – Kaufmännische Krankenkasse (2022). Sprachtherapie statt Spiel, Sport & Spaß: Mehr Kinder betroffen. Verfügbar unter: https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/sprachdefizite (19.11.2024).

Lankau, R. (2022). Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht (2. Auflage). Weinheim u. a.: Beltz.

Lehner, M. (2019). Didaktik. Bern: Haupt.

o. A. (2019). Hochschulen beklagen gravierende Mängel bei Abiturienten. F. A. Z. (vom 18.06.2019). Verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/campus/hochschulen-massive-maengel-bei-studierfaehigkeit-von-abiturienten-16242022.html (19.11.2024).

Preckel, D. & Hämmerle, P. (2007). Selbstgesteuertes Lernen – eine zentrale Kompetenz in der Wissensgesellschaft. Weitgehende Autonomie als Ziel. NetzWerk, 3, 39–41. Verfügbar unter: https://www.ectaveo.ch/Mediathek/2012/06/2007_NetzWerk03.pdf(19.11.2024).

Schaumburg, H. & Prasse, D. (2019). Medien und Schule. Theorie – Forschung – Praxis. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. 

Skinner, B. F. (1953). Science and human behavior. New York: Macmillan.


Über die Autorin

Birgit Spies ist Professorin für Bildung und Digitalisierung an der Hochschule Fresenius im Fachbereich Fernstudium, Onlineplus. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Medienbildung, die Medienpsychologie sowie die Mediendidaktik – das Lehren und Lernen Online und mit digitalen Medien. 

Nach einer technischen Ausbildung und dem Abitur studierte Sie Informationstechnik in Dresden (Dipl.-Ing. TU) und Medien und Bildung in Rostock (M.A.). Sie promovierte später an der Ludwig-Maximilians-Universität in München in den Fächern Pädagogik (H) und Psychologie (N) zum Dr. phil.

Birgit Spies war als Projektmanagerin, Trainerin und E-Learning-Entwicklerin in großen deutschen Unternehmen tätig und wechselte später in den Lehralltag und arbeitete mehr als 10 Jahre als IT-Lehrerin an einer Berufsfachschule. Seit inzwischen mehr als 25 Jahren lehrt und doziert sie in der Aus- und Erwachsenenbildung zu allen Themen der Mediendidaktik, Medienbildung und Medienpsychologie. 

Als Keynote-Speakerin für Digitalisierung, Bildung und Medien ist Birgit Spies in Organisationen, Unternehmen, Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen unterwegs. Sie berät zur mediendidaktischen Konzeption von digitalen Bildungsangeboten, zu E-Learning-Themen und schult Dozenten und Trainer für den Virtual Classroom. Mehr über Birgit Spies erfahren Sie unter https://www.prof-birgit-spies.de.

Kontakt: prof-birgit-spies@hamburg.de


Titelbild: tired-teenage-girl-working-laptop-online-education-emotions-concept.jpg auf freepic.com


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Birgit Spies (12. März 2025). Digitalisierung der Bildung oder: Die Renaissance des Behaviorismus. Bildung - Mensch - Medien. Abgerufen am 25. März 2025 von https://doi.org/10.58079/13gfb


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